20-10-2022

Was das Design unserer Gegenwart zu sagen hat

Mailand,

Museen,

Antonella Galli, Design, ADI Design Museum ,

Der Beweis, dass Design Kultur ist und somit ein Werkzeug zur Entschlüsselung unserer Zeit, findet sich in den Hallen des ADI Design Museums in Mailand, wo alle mit dem Compasso d’Oro ausgezeichneten Projekte und Produkte versammelt sind. Eine neue Ausstellung mit dem Titel Presente Permanente konzentriert sich auf die Projekte, die die Gegenwart am meisten vorweggenommen haben.



Was das Design unserer Gegenwart zu sagen hat

Ein Museum sollte kein steriler Behälter sein, geschweige denn ein verstaubter, nostalgischer Ort. Die Idee, mit der ADI, die italienische Vereinigung für Industriedesign, vor etwas mehr als einem Jahr das ADI Design Museum in Mailand eröffnete, war genau diese: Das dem Compasso d’Oro (höchst Design-Auszeichnung Italiens) gewidmete Museum muss ein dynamisches Gebilde sein, das sich mit der Gegenwart auseinandersetzt. Und das liegt in der Natur der Sache, denn alle zwei Jahre kommen neue Preisträger in die Sammlung. Aber auch die Ausstellungsgestaltung wird regelmäßig neu überdacht: Anfang Oktober wurde eine neue Ausstellung eröffnet, die den drei Kuratoren Francesca Balena Arista, Giovanni Comoglio und Maite García Sanchis anvertraut wurde. Unter dem Titel Presente Permanente (Permanente Gegenwart) werden dreißig preisgekrönte Projekte aus der Geschichte des Compasso d’Oro vorgestellt, um die Beziehung zwischen Projekten und Zeitgenossenschaft zu untersuchen. “Wir haben zunächst einige sehr aktuelle Themen identifiziert, die unserer Meinung nach durch die ausgewählten Projekte gut repräsentiert werden” sagt Francesca Balena. Die Themen sind auf den gelben Fahnen und in den entsprechenden Vitrinen gut sichtbar, darunter: ‘Verso l’età dell’immagine’ (Auf dem Weg zum Zeitalter des Bildes), ‘Il benessere si fa social’ (Wellness wird sozial), ‘Spazi ibridi’ (Hybride Räume), ‘Domesticità a sistema’ (Häuslichkeit als System), ‘Il significato del dettaglio’ (Die Bedeutung des Details), ‘La complessità degli archetipi’ (Die Komplexität der Archetypen).

Ich folge den drei Kuratoren durch die weitläufigen Räume des Museums, während sie vor den großen gelben Rahmen - einer für jedes Jahr des Compasso d’Oro ab 1954 - verweilen, in denen die Projekte präsentiert werden. Für 1954 lautet die thematische Brücke zur Gegenwart ‘Democrazia impilabile. Spazio minimo ed estetica moderna (Stapelbare Demokratie. Minimaler Platzbedarf und moderne Ästhetik)’, und das bringt die Bedeutung eines der preisgekrönten Projekte auf den Punkt: das Tafelservice In Colonna von Giovanni Gariboldi für die Società Ceramiche R. Ginori, bestehend aus Tellern, Tassen, Schalen und Untertassen, alle leicht stapelbar, mit einer nüchternen und effizienten Modernität, die auch heute noch, fast siebzig Jahre später, für Erstaunen sorgt. “Für jedes der ausgewählten Objekte haben wir beschlossen, die Begründung der Jury vollständig zu zitieren”, betonen die Kuratoren, “denn sie enthält viele Bedeutungen, die helfen, die zugrunde liegenden Werte zu lesen”. In der Tat drückt die Motivation eine wirksame Synthese aus: “In der modernen Keramikproduktion ist das Problem, vor dem ein ‘Designer’ steht, nicht das, eine Dekoration von ‘antikem Stil’ durch eine Dekoration von ‘modernem Stil’ zu ersetzen. Es investiert die formale Interpretation der Anforderungen unserer Nutzung: in diesem Modell wird die Notwendigkeit eines minimalen Platzbedarfs für den Tischservice formal interpretiert. Die Elemente dieses Dienstes gehören in Form und Farbe zu jenem Geschmack für das Wesentliche, dessen gehobener Ausdruck den modernen Stil bestimmt”

Ein paar Schritte weiter zeigen mir die Kuratoren die ausführliche Studie aus dem Jahr 1959, die Elea gewidmet ist, der ersten elektronischen Rechenmaschine, die von Ettore Sottsass für Olivetti entworfen wurde und unter dem Thema ‘L’architettura della macchina. Al servizio dell’uomo’ (Die Architektur der Maschine. Im Dienste des Menschen) steht. “Elea ist eines der Projekte, die wir auf eine etwas andere Weise angegangen sind” verrät Francesca Balena Arista, “immer ausgehend von der Motivation der Jury, nach der das Projekt wegen seiner Modularität wichtig ist. Mit diesem Konzept löst Sottsass in der Tat ein sehr komplexes Projekt. Er hatte keine Referenzen, niemand hatte jemals einen elektronischen Rechner entworfen. Der Designer musste eine neue Bildsprache erfinden. Zur Veranschaulichung seines Weges haben wir Originalzeichnungen aus dem CSAC in Parma ausgewählt, die noch nie ausgestellt wurden, sowie das Logo, das Sottsass selbst für Elea entworfen hat. Unter den Dokumenten sehe ich auch ein Exemplar von Epoca, einer illustrierten Wochenzeitschrift, die in jenen Jahren von vielen italienischen Familien gelesen wurde. Die Redakteure entdeckten, dass Epoca eines der wenigen existierenden Fotos des Prototyps Elea 9002 veröffentlicht hatte (während das Modell 9003 in Produktion ging). Auf den Seiten des Wochenmagazins wurde mit Fotos und Bildunterschriften erklärt, wie die neue elektronische Rechenmaschine funktioniert. Gegen den Rat der Techniker, aber in Absprache mit Olivetti, senkte Sottsass die Höhe der Schränke, in denen die Maschinen untergebracht werden sollten, auf 1,4 m, damit die Menschen bei der Arbeit nicht den Blickkontakt zu ihren Kollegen verloren” erklärt Francesca Balena, “die Bedeutung von Adriano Olivetti zeigt sich in dem Moment, in dem eine Innovation entsteht, die den Menschen helfen soll, besser zu arbeiten”. Heute, im Zeitalter des Metaversums, ist das von Sottsass und Olivetti immer noch ein wichtiger Hinweis auf die Methode. Wie immer hat die Gegenwart ihre Wurzeln in der Vergangenheit; das sollten wir nicht vergessen.

Antonella Galli

 


Captions and credits

01 and 03-12 Some of the first Compasso d’Oro winners selected for the new exhibition at ADI Design Museum (Courtesy of ADI Design Museum):

01 Design del servizio pubblico (Design of public services): 1964, signage and layout of the metro system in Milan, Franco Albini, Bob Noorda, Franca Helg, Antonio Piva, for Metropolitana Milanese spa

02, 13 and 14 Adi Design Museum, “Presente Permanente” exhibition; curators Francesca Balena Arista, Giovanni Comoglio and Maite García Sanchis.

03 Nuovo paesaggio (New landscape): 1967, Guscio tourist shelter, Roberto Menghi, I.C.S.

04 Democrazia impilabile (Stackable democracy): 1954, Stackable tableware, Giovanni Gariboldi for Società Ceramiche R. Ginori

05 L’architettura della macchina (The architecture of the machine): 1959, Elea mainframe computer, Ettore Sottsass junior, for Olivetti & C. Spa

06 Domesticità a sistema (Domesticity as a system): 1960, KS1171 collapsible dish draining rack, Gino Colombini, for Kartell srl

07 Rivestire di senso (Covering with meaning): 1979, La Famiglia degli Strips armchair, Cini Boeri, Laura Grizziotti for Arflex spa

08 Luce e materia (Light and matter): 1987, HPL Diafos decorative laminates, Abet Laminati Research Centre

09 Flessibilità in equilibrio (Flexibility in the balance): 1989, series of Tolomeo lamps, Michele de Lucchi and Giancarlo Fassina, for Artemide spa

10 The valore dell’identità visiva (The value of visual identity): 1998, Cosmit information graphics, Massimo Vignelli-Vignelli Associates

11 Tradizione e innovazione (Tradition and innovation): 2001, Tite and Mite floor lamp and suspension lamp, Marc Sadler, Foscarini Murano srl

12 Il nuovo valore del tempo (The new value of time): 1956, Cifra 5 electromechanical clock, Gino Valle and Nani Valle with John Myer and Michele Provincial for R.E.C. Solari


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