26-08-2020

SHAPE SHIFTERS 

Vector Architects,

Miru Kim,

Orte, denen eine neue Bedeutung übertragen wird, erwachen zum Leben und bieten Funktionen und Erzählungen, die sich von den ursprünglichen unterscheiden.



<strong>SHAPE SHIFTERS </strong>

Die Narben einer Stadt haben für einige keinen Nutzen oder Bedeutung, aber für andere stellen sie Auszüge einer besonders spannenden Erzählung dar, die eine geradezu magische Kraft ausübt. Sie stellen Unterbrechungen von absoluter Stille dar, die eine Reflexion erfordern: Sie erinnern uns an das Verrinnen der Zeit, stellen die Verbindung zwischen Leben und Tod dar und regen uns unweigerlich dazu an, über die Prekarietät und Vergänglichkeit unserer Existenz nachzudenken. Sie heben sich von der Erzählweise unserer deterministischen Gesellschaft ab, die für alles eine Antwort bereithalten will, und lösen dieselben Empfindungen von Theaterstücken und Gedichten romantischer Dichter aus.
Die leicht durch den Nimbus des Vergessens gedämpften Atmosphären appellieren an unsere Vorstellungskraft, und es ist kein Zufall, dass so viele von uns, ich allen voran, es lieben, in ihren leeren Hüllen zu verweilen, die von Wurzeln und Spinnweben durchzogen sind, begierig darauf, ihre intimsten Ecken zu erkunden, umgeben von dem angenehmen Gefühl einer Vertrautheit mit den Überresten, von denen wir uns wünschen, dass sie nie ganz verschwinden, aber gleichzeitig, dass sie nicht von rücksichtslosen und gleichgültigen Händen in ihrer Ruhe gestört werden.

Die koreanisch-amerikanische Künstlerin Miru Kim entflieht in ihrer Fotosammlung ‚Naked City Spleen‘ den Ängsten der Isolation und Entfremdung, die zeitgenössische Städte mit ihrer übermäßigen Kommerzialisierung hervorrufen und erkundet versteckte und aufgelassene Gebiete der Stadt, die in ihr Gefühle der Wiederbelebung und der Befreiung auslösen. Fast zwanghaft angezogen von der unterirdischen Welt und den dem Verfall preisgegebenen Industriegebäuden, scheint sie Zuflucht und Schutz in den Weiten der stillen Räume zu finden, die schon lange nicht mehr jenen Kult der Produktion und des Konsums gehorchen, der unsere Existenzen verseucht und verdirbt, und menschliche und soziale Beziehungen untergräbt, indem er nicht mehr zwischen materiellen und spirituellen Werten unterscheidet. Kim empfindet in diesen Situationen ein befreiendes Gefühl, wenn sie sich vor dem Hintergrund von Ruinen, Trümmern und heruntergekommenen rostigen Strukturen entkleidet, nackt und authentisch wie ihre Szenerien, die uns an die ergreifende Schönheit dieser vergessenen und vernachlässigten Orte vor Augen führt. Orte, wie aufgelassene U-Bahn-Stationen und Tunnel, verfallene Fabriken „bilden das Unterbewusstsein der Stadt, in der kollektive Erinnerungen und Träume wohnen“. Räume, die nicht mehr „fremd, sondern vertraut, nicht mehr rau, sondern ruhig, nicht mehr gefährlich, sondern verspielt“ wirken.

Miru Kim, 'Naked City Spleen'. 

Wenn man in den Furchen besonders chaotischer Städte gräbt und es schafft, in Teile vorzudringen, die wirklich verborgen scheinen, eigentlich aber greifbar nahe sind, kann man versteckte Welten entdecken, die über unsere Vorstellungskraft hinausgehen und die es schaffen, uns staunend zurückzulassen. Zeugnisse, die Miru Kim sicherlich unverändert und von niemandem beachtet vor sich hin schlummern lassen möchte. Ich hingegen würde mir wünschen, dass sie von jemandem mit einer besonderen Sensibilität Aufmerksamkeit erhalten, der ihnen hilft, dass ihre stolze Präsenz weiterhin wichtige Treffpunkte und Orte des Austauschs für die Gemeinschaft sind.

Ich wende gerne den Begriff „Shape-shifter“ an, der auf Deutsch so viel wie Formen-Umgestalter bedeutet. Er bezieht sich etymologisch auf diejenigen, die in der Lage sind, Form und Persönlichkeit zu verändern, auf jene Architekten, denen es gelingt, sich ikonischen, eloquenten und bedeutende Zeugen einer kulturellen Identität, die dem Verfall ausgesetzt sind, anzunähern und ihre starken Schwingungen wahrzunehmen, um ihnen neues Leben einzuhauchen, ohne ihr Erscheinungsbild zu verändern.  Wie Experten, erfahrene Choreographen, die den magnetischen Reiz, den die großartige Ästhetik der Artefakte versprüht, intakt halten oder hervorheben, arbeiten sie, indem sie neue Funktionen zuweisen, neue Perspektiven, neue Ziele vorschlagen, eine Erzählung anregen, die sich von der vergangenen unterscheidet, im harmonischerem Einklang mit der Gegenwart. „Ihnen ist bewusst, dass Architektur und ihre Umgebung eng miteinander verflochten sind, und sie wissen, dass die Wahl der Materialien und die Art und Weise zu bauen, kraftvolle Mittel sind, um dauerhafte und sinnvolle Räume zu schaffen“, RCR Arquitectes.

Revitalisieren, aufwerten, wiederbeleben waren Teil der radikalen Dichotomie, die seit Jahren zeitgenössische Architektur und Eingriffe an bestehenden Strukturen an zwei gegensätzlichen Fronten sah. Durch die dichte Bebauung des städtischen Gebiets besteht heute nicht mehr oft die Möglichkeit, ganz von vorne zu beginnen. Es wird daher immer dringlicher, vorhandene Bausubstanz neu zu erfinden. Es war daher keine Überraschung, als der spanische Pavillon auf der Biennale von Venedig im Jahr 2016 in einer optimistischen Sichtweise ‚Unfinished‘ präsentierte und dafür den Goldenen Löwen für eine Reihe von Gebäuden gewann, die aus wirtschaftlichen Gründen unvollendet geblieben waren und in weiterer Folge aufgrund von dringlichen und neu entstehenden Bedürfnissen überarbeitet wurden.  Die ausgestellten Werke reichten von Instandhaltungsarbeiten, adaptiver Wiederverwendung bis hin zu Strategien, die darauf abzielten, Städte neu zu beleben. ‚Unfinished‘ steht für die ständige Weiterentwicklung und das fruchtbare Zusammentreffen von Vergangenem und Neuem. Es handelt sich um eine Identität, die wahrnehmbar ist, aber gleichzeitig bereit, sich zugunsten der Gesellschaft an zukünftige Bedürfnisse anzupassen, ganz im Sinne der Vergänglichkeit, einem der Merkmale der Architektur.

Die Wertschätzung für die charismatische Patina, die diese großartigen, ungenutzten und vernachlässigten Gebäudehüllen der Vergangenheit ausstrahlen, hat dazu geführt, dass man heute nach neuen Formeln und alternativen Verwendungsmöglichkeiten für die räumliche Großzügigkeit, die sie auszeichnet, sucht. Es wird nicht versucht, die Wunden der Zeit zu verbergen, sondern ihre geisterhaften Existenzen wiederzubeleben. Und je mehr die Erzählung, die ihnen übertragen wird, diesen Strukturen entspricht, desto stärker ist die neue Synergie zwischen dem Nutzer und dem Gebäude. Diese Architekten verzichten auf ihre persönliche Handschrift und ziehen unmerkliche Interventionen vor, die wie Nähte die Bauteile miteinander verbinden, wodurch zwei unterschiedliche Persönlichkeiten erhalten bleiben und gleichzeitig eine funktionale Kontinuität mit der Vergangenheit und dem kollektiven Gedächtnis eines Ortes gewährleistet wird.

Condizioni originali dello zuccherificio, Yangshou, Guangxi, China. 2008. Foto cortesia di Vector Architects. 

In China wurden aufgrund der drastischen Veränderungen in der Stadtentwicklung alte und ungenutzte Strukturen allzu oft radikal beseitigt und durch Neues ersetzt. Es waren vor allem junge Architekturbüros, die auf diesen Trend mit starkem Widerstand reagierten und diese willkürliche ‚Tabula rasa‘ in Frage stellten. Sie setzten sich dafür ein, Orte in der Stadt zu retten, die sonst zum Verschwinden verurteilt wären. Selbst wenn die Spuren der Vergangenheit keine relevanten Zeugnisse eines volkstümlichen Erbes sind, vermeidet der familiäre und intime Charakter, der davon ausgeht und vermittelt wird, das Risiko, dass wir das Gefühl haben, in einer unbestimmten und „bezuglosen“ Umgebung zu leben, die keinerlei Emotionen auslöst. Vector Architects gehörte schon immer zu diesen Verfechtern. Sie sind zutiefst von der Wichtigkeit überzeugt, „den Geist“ der Vergangenheit zu bewahren. Und in allen Projekten, ob klein oder groß, spürt man die behutsamen und respektvollen Eingriffe, mit der sie sich Bestehendem nähern. Diese Vorgehensweise wurde so zu ihrem Markenzeichen.

M Wood Museum Entrance Revitalization. Vector Architects. Foto di Xia Zhi.

Das Studio erhielt die Einladung zur Renovierung des M Woods Museums, das 2014 in einem verlassenen Industrielager in Pekings berühmtem Kunstbezirk 798 eingerichtet wurde. Bei dieser Intervention wurde besonderes Augenmerk auf den Eingang gelegt, indem entschieden wurde, die Fassade nicht zu verändern, sondern nur durch eine leichte, transparente Abschirmung zu verkleiden. Damit werden die Codes der industriellen Sprache vorweggenommen und ein Blick auf das ursprüngliche Mauerwerk ermöglicht. Vorhänge aus Drahtgitter sind mit einem gewissen Abstand vor dem Gebäude befestigt, die das bedeutende Erlebnis, das die Besucher erwartet, mit Durchlässigkeit und als einleitendes Mittel offenbaren. Das Licht spielt mit der Durchlässigkeit des Metalls und wirft Schatten und Reflexe auf die Wand des Eingangs, wodurch ihr die Starre genommen wird, und erreicht selbst die dunkelsten Bereiche, um sie zu erhellen. Teile des ungenutzt gebliebenen Außenbereichs wurden unter dem gleichen Metallvorhang eingegliedert und nutzbar gemacht. So wurden öffentliche Plätze zum Verweilen, Kinderspielplätze gewonnen ebenso wie Platz für einen sonntäglichen Bauernmarkt geschaffen. Der behutsame Eingriff belebt den kulturellen Gebäudeblock neu, indem die Beziehung zwischen Alt und Neu sehr sensibel angegangen wurde. Die Einbeziehung der städtischen Öffentlichkeit gibt dem Ensemble einen kräftigen Impuls.

Alila Yangshou Hotel, Guangxi, China. Vector Architects. Foto di Su Shengliang.

Ein anderes interessantes Projekt ist die Umwandlung einer Zuckerfabrik aus den 1960er-Jahren in ein Resort: das Alila Yangshou Hotel. Der aus verschiedenen Baukörpern gebildete Industriekomplex befindet sich in der malerischen Bergregion Guangxi, eingebettet zwischen Karstgipfel und einer breiten Bucht des gewundenen und mäandernden Flusses Li. Die lyrische Atmosphäre dieser Kulisse erinnert an die traditionellen chinesischen Landschaftsbilder und passt sich perfekt der neuen Rolle als ruhiger, romantischerZufluchtsort an, in den er sich nach dem Vorschlag zur Wiederverwendung verwandelt hat. Vector Architects stimmen sich auf die stillen Noten und Saiten des Kontextes ein und komponieren mit großer Eleganz und Grazie eine neue Rhapsodie des sonst vergessenen Ortes. Der schlichte und raffinierte Eingriff gleicht sich auf der Suche nach einer ästhetischen Resonanz an das Bestehende an. Es ist eine Hommage an das industrielle Erbe und an die Bedeutung, die diese Fabrik für vergangene Generationen gehabt hat. Der im Chinesischen verwendete Begriff ‚Tian‘ geht weit über die einfache Bedeutung von ‚Natur hinaus und spielt eine einflussreiche Rolle.

Alila Yangshou Hotel, Guangxi, China. Vector Architects. Foto di Su Shengliang.

Angepasst an die Morphologie des Ortes wurde die dialogische Interaktion zwischen dem Gebäude und der natürlichen Umgebung, der horizontalen Ausrichtung der Architektur und der vertikalen Beschaffenheit der Berge unverändert bewahrt. Es wurde eine Reihe von Wegen angelegt und höhlenähnliche Räume als strategische Aussichtspunkte vorgeschlagen, um den Gästen die Möglichkeit zu geben, die atemberaubende Landschaft ohne visuelle Barrieren und aus verschiedenen Perspektiven bewundern zu können. Reflektierende Wasserbecken vervollständigen das Ensemble. Sie passen sich der geometrischen Anordnung an, flankiert von Gehwegen und den vorhandenen Einheiten und betonen die heitere Umgebung und die starke Verbindung zur Natur. Alte Stützpfeiler aus Eisen, die zum Verladung von Zuckerrohr dienten, ragen über einem länglichen Schwimmbecken empor und säumen es bis zum Fluss. Bestehendes und Neues stehen Seite an Seite und verschmelzen zu einer neuen, ausdrucksstarken Geschichte der Erinnerung aus der Vergangenheit. Unter Beibehaltung des groben industriellen Charakters haben die alten Strukturen neue Funktionen erhalten: Rezeption, Bar, Galerie, Cafeteria, Haupthalle, Bibliothek. Zusätzliche Gebäude für die Beherbergung, in strikter Übereinstimmung von Form und Materialien, runden die Anlage ab. Wände aus perforierten Betonblöcken erheben sich voller Leichtigkeit vor den schweren, massiven Originalwänden der Gebäude, bilden Korridore und lassen Licht in die Räume hereinfluten. Sie verleihen der schnörkellosen, kalten Sprache des Industriezements Wärme und fördern die Luftzirkulation. Die perforierten Betonziegel mit den gleichen Farbtönen und Nuancen der schon vorhandenen Materialien sind eines der vielen Details, die Vector Architects in seiner sorgfältigen Neuinterpretation sucht, die dem Wunsch nachkommt, eine authentische Kontinuität, die das Bestehende vervollständigt, ohne es zu dominieren, zu schaffen.


Virginia Cucchi


Crediti:

Fotografie (Cover): ©Miru Kim, Naked City Spleen - http://mirukim.com/

Vector Architects - http://www.vectorarchitects.com/en/

M Wood Museum Enterance Revitalization, 798 Art Zone, Beijing, China 
Photographs: ©Xia Zhi, Courtesy of Vector Architects

Alila Yangshou Hotel, Yangshuo, Guilin, Guangxi, China
Photographs: ©Su Shengliang and ©Chen Hao, Courtesy of Vector Architects


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