24-10-2022

Objects of Desire: der Surrealismus, der das Design belebt

London,

Messen,

Antonella Galli, Design,

Die Surrealisten sind nicht verschwunden, sondern sie sind unter uns. Sie sind Mode- und Möbeldesigner, Fotografen und Grafikdesigner. Das beweist eine Ausstellung in London, die mehr als 350 Objekte von Man Ray bis Dalí, von Schiaparelli bis Dior, von Ingo Maurer bis Campana und Bouroullec versammelt, die dem Unbewussten im Alltag Raum geben.



Objects of Desire: der Surrealismus, der das Design belebt

Es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, dass der Surrealismus nicht ausgestorben ist, sondern im Gegenteil eine neue Blütezeit erlebt. Und es betrifft alle Bereiche der Kreativität, außer vom literarischen oder künstlerischen Bereich. Design ist eines der Themen, die am meisten davon betroffen sind (und davon profitieren). Dies ist die These, die Kathryn Johnson, Kuratorin von ‘Objects of Desire: Surrealism and Design 1924 – Today’, unterstützt und belegt. Die Ausstellung wurde kürzlich im Design Museum in London eröffnet (eine Produktion des Vitra Design Museums) und läuft noch bis zum 23. Februar. Fast ein Jahrhundert also, in dem die Avantgarde, die Europa und dann die Welt zwischen den beiden Kriegen erschütterte, sich entwickelte und die Kreativität befruchtete, vor allem in der Sphäre des "normalen Alltags", den die Surrealisten von Grund auf zu untergraben beabsichtigten. Vielleicht liegt das daran, dass, wie Johnson argumentiert, der Surrealismus sich bester Gesundheit erfreut und nicht in den 1960er Jahren ausstarb (mit dem Tod von André Breton, der ihn in der Manifeste du Surréalisme von 1924 theoretisierte, Anm. d. Red.) Sie entstand aus der kreativen Einbeziehung des Chaos nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs und der Grippepandemie von 1918. Heute, im Kontext von schwindelerregenden technologischen Veränderungen, Krieg und einer weiteren globalen Pandemie, gewinnt der Geist des Surrealismus erneut an Bedeutung. Die Pioniere des spekulativen Designs, Dunne & Raby, deren Werke ausgestellt sind, sprechen von der Notwendigkeit eines Designs, das unsere innere Welt nährt. Und zielt darauf ab, nicht nur die materielle Welt zu verändern, sondern unseren Geist, unsere Vorstellungskraft und damit auch die Zukunft zu formen.”

Ich habe Bretons Definition des Surrealismus in der Manifeste nachgelesen: “Reiner psychischer Automatismus, mit dem man vorschlägt, das tatsächliche Funktionieren des Denkens entweder verbal, schriftlich oder auf andere Weise auszudrücken. Der besagte Gedanke, in Abwesenheit jeglicher Kontrolle durch die Vernunft, außerhalb jeder ästhetischen oder moralischen Sorge.” Kathryn Johnson führt aus: “Breton nannte das Verlangen ‘die einzige Motivation der Welt’. Ob sublim oder transgressiv, das Begehren ist die Stimme der Innerlichkeit. Das surrealistische Objekt ist ein Ausdruck innerer Sehnsucht in der materiellen Welt - etwas Mächtiges und Transformatives. Salvador Dalí ebnete den Weg mit dem Lobster-Telefon, einem Telefon mit hummerförmigem Hörer, das in der Ausstellung zusammen mit der Champagner-Lampe und dem lippenförmigen Sofa, dem Mae West Lips Sofa, gezeigt wird, die alle 1938 von dem Engländer Edward James, seinem Freund und Förderer, bei dem spanischen Meister in Auftrag gegeben wurden. Die Anspielungen auf das Universum des Begehrens sind offensichtlich: Wer in den Hörer des Hummertelefons spricht, scheint einen Hummer zu küssen, den Dalí als erotisches Symbol betrachtete, ebenso wie die Andeutungen des Sofas in Form eines Frauenmundes. Was die Vernunft verschweigt, erwecken die Surrealisten.

In den folgenden Jahrzehnten wird diese Lektion von den Designern gelernt, die nicht nur mit den Sinnen spielen, sondern auch mit der Fantasie, dem Mysterium und dem Gefühl des Märchens. Beispiele dafür sind einige der ausgestellten emblematischen Einrichtungsgegenstände wie Cabana von Fratelli Campana, ein kreisförmiges, freistehendes Haushaltsgefäß, das mit einer Kaskade von handgeknüpften Raphiafäden bedeckt ist, als wäre es ein langes Haar, das es in eine beunruhigende Präsenz verwandelt; oder wie die rätselhaften, manchmal entstellenden Ausdrücke von Lina Cavalieri, die Piero Fornasetti für immer auf Tellern, Tabletts, Stühlen, Schränken und Vasen verewigt hat.

Für die Surrealisten war auch die schöpferische Geste entscheidend, die irrational, instinktiv und zufällig sein musste, damit das Unbewusste sich ausdrücken konnte. Eine Methode, die sich zum Beispiel Ronan und Erwan Bouroullec angeeignet haben, die beim Zeichnen einen intuitiven und automatischen Prozess anwenden, um zu noch nie dagewesenen Formen und Bildern zu gelangen, wie die Werke in der Ausstellung zeigen. Die schwedischen Designer Front hingegen haben diese gestische Freiheit in die technologische Dimension projiziert, und zwar mit der Kollektion Sketch Furniture, die aus einer von Hand im Raum gezeichneten Zeichnung entstanden ist, die mit einem fortschrittlichen Motion-Capture-Tool in eine digitale Datei übersetzt und dann durch ein 3D-Druckverfahren in ein reales Objekt verwandelt wurde.

Die Verbindungen des Surrealismus zum aktuellen Zeitgeschehen sind tiefgreifend, wie auch die Kuratorin einräumt: “Einer der wichtigsten Aspekte ist das Interesse an organischen und natürlichen Formen und proto-ökologischen Ideen. Der Schriftsteller Roger Caillois stellte 1962 fest: "Der Mensch steht nicht im Gegensatz zur Natur, er ist selbst Natur. Im Zusammenhang mit diesem Konzept finden wir in der Ausstellung die Arbeiten von Frederick Kiesler und Hans (Jean) Arp. Aber die Verbindung zwischen Körper und Natur ist auch der Schlüssel zu mehreren zeitgenössischen Werken, wie denen von Nacho Carbonell, Najla el Zein oder Dunne & Raby selbst. Der Surrealismus erkennt Träume und Sehnsüchte als ständige Begleiter an”, schlussfolgert Johnson. Wenn man weiß, wie sie zu deuten sind, kann man diese komplizierte Gegenwart entschlüsseln.

Antonella Galli


Exhibition: Objects of Desire: Surrealism and Design 1924 – Today

A Vitra Design Museum exhibition
Dates: 14 October 2022 – 19 February 2023
Location: the Design Museum London, UK designmuseum.org

Curated by
From the Design Museum, London - Kathryn Johnson (Curator), Tiya Dahyabhai (Assistant Curator)
From the Vitra Design Museum, Weil am Rhein Dr. Mateo Kries (Director, Vitra Design Museum), Tanja Cunz (Assistant Curator, Vitra Design Museum) Exhibition 2D Design: Violetta Boxhill

Captions and credits
01, 03, 04, 07-09: The exhibition Objects of Desire: Surrealism and Design 1924-Today (produced by the Vitra Design Museum) at The Design Museum in London until 19 February 2023. Credits: Andy Stagg for The Design Museum, London.

The images below depict a number of the works on exhibit:
/> 02 Gae Aulenti, Tour, 1993, Manufactured by FontanaArte; glass, bicycle wheels. Vitra Design Museum
05 Piero Fornasetti, Wall plate no. 116 from the series Tema e Variazioni, after 1950; silk print on porcelain. Fornasetti Archive
06 Ingo Maurer, Porca Miseria!, 2019 edition of 1994 design; steel, porcelain. Vitra Design Museum
10 BLESSbeauty Hairbrush, 2019 edition of 1999 design, Bless; beech; human hair. Vitra Design Museum
11 Schiaparelli, Look 6 Haute Couture, Spring/Summer 2021. Courtesy of Schiaparelli
12 Mary Katrantzou, Typewriter' Printed Silk Dress, 2018. Courtesy of Mary Katrantzou
13 Man Ray, Pendantif pendant, manufactured by GEM Montebello, 1970. Photo Frank Strous for Design Museum Den Bosch, The Netherlands
14 Sarah Lucas, Cigarette Tits [Idealized Smokers Chest II], 1999. Chair, balls, cigarettes, bra, 78.74 x 49.53 x 52.71 cm © Sarah Lucas. Courtesy of Sadie Coles HQ, London.
15 Pedro Friedeberg, Hand Chair, about 1962, Production this copy: c. 1965; carved mahogany. Vitra Design Museum
16 Jean Cocteau, Untitled, manufactured by Elsa Schiaparelli, 1952. Photo Frank Strous for Design Museum Den Bosch, The Netherlands


×
×

Bleiben Sie in Kontakt mit den Protagonisten der Architektur, abonnieren Sie den Floornature-Newsletter