Fäden, Gewebe, Geflechte: Textilien werden auf der Miniartextil zur Kunst

Man kann sich die Weite und Großartigkeit dieses Ortes erst vorstellen, wenn man durch das Tor der Villa Olmo in Como tritt, einem imposanten neoklassizistischen Gebäude mit einem jahrhundertealten Garten, der den See überblickt und von dem aus man den Eindruck hat, er sei direkt aus einer Seite von Alessandro Manzoni entsprungen. In den Sälen dieser historischen Villa am Comer See, die durch eine kürzlich durchgeführte Restaurierung ihren alten Glanz wiedererlangt hat, findet dieses Jahr die mittlerweile berühmte Miniartextil statt, eine Ausstellung für Faserkunst, die nun schon zum einunddreißigsten Mal stattfindet und sich von Anfang an durch eine Besonderheit auszeichnet: die Zusammenführung der besten Minimalwerke (in einem idealen Würfel von 20 cm Seitenlänge), die mit Materialien und Techniken aus der Welt der Textilien und ihrer Deklinationen hergestellt wurden. Aber das ist noch nicht alles: Neben der Sammlung von Miniaturwerken kann man Raum für Raum Werke im Maxi-Format bewundern, die sich ebenfalls auf Textilien konzentrieren. Alle entwickeln und interpretieren das von den Kuratoren und Organisatoren für dieses Jahr gewählte Thema: Rosa Alchemico. Rosa ist eine Farbe, aber auch eine Blume und hat eine ungewöhnliche Bedeutung, nämlich die der Alchemie, einer alten Philosophie und experimentellen Praxis, die unter anderem darauf abzielte, die Materie zu verwandeln und zu veredeln. Der Titel fasst also mehrere Stichworte zusammen: die Fähigkeit, sich zu verwandeln, ausgehend von einer Farbe, die in unserer Kultur auf das Weibliche ausgerichtet ist, und von einer mythologischen und mystischen Blume, um zu einer sanften, aber radikalen Befreiung zu gelangen. Im Hintergrund alchemistische Prozesse, die mit Esoterik, Magie und Geheimnissen zu tun haben.

Nach der von den Gründern der Initiative, Nazzarena Bortolaso, einer Mäzenin und Unternehmerin mit einer Leidenschaft für zeitgenössische Kunst (die im vergangenen April verstorben ist), und Mimmo Totaro, einem Künstler und Designer, gewünschten Formel wird jedes Jahr ein internationaler Aufruf zur Einreichung von Projekten veröffentlicht, die sich an dem gewählten Thema für die Sammlung von Miniartextil-Projekten inspirieren. 234 Künstler aus der ganzen Welt haben auf den diesjährigen Aufruf reagiert. Im Juni wählte die Jury 54 von ihnen aus, die im prächtigen Ballsaal der Villa einen idealen Ausstellungsort fanden. Sie alle einzeln zu bewundern ist ein Muss und eine Reise voller Überraschungen. Es sind Blumen, organische, abstrakte, surreale Formen; Mikroobjekte (ein kleiner Pullover) oder Mikroarchitekturen (ein Holzwürfel mit verbrannten Schlüsseln); phantastische Elemente (ein Paar rosa Engelsflügel), erzählerische Kompositionen (ein Stapel kleiner Bücher mit perlenbestickten Titeln).

Neben den poetischen und verfremdenden Sujets sind es die Materialien und vor allem die Techniken, die auffallen: Fäden aller Art (Kupfer, Silber, Papier, recycelter Kunststoff), kunstvoll verwoben oder verknotet; wiederverwertete Stoffe, geschnitzt, geklebt, bedruckt, modelliert, dreidimensional gemacht mit neuen Strategemen und alten Techniken, gemischt mit Steinen, Holz, Glas, pflanzlichen Elementen, Nägeln, Zeitungspapier. Die räumliche Begrenzung (der Würfel mit 20 cm Seitenlänge) macht es erforderlich, die Botschaft zu verdichten, die Techniken zu verfeinern und die Bedeutung in wenigen ausdrucksstarken Elementen zusammenzufassen. Die Jury, bestehend aus Mimmo Totaro, Paolo Bolpagni und Sergio Gaddi, verlieh den Preis für das beste Werk, der in Erinnerung an Nazzarena Bortolaso benannt wurde, an Danielle Péan Le Roux für das Mini-Textil Black Rose with Gold Pearl.

Die Verbindung mit dem Territorium, die diese Ausstellung zum Ausdruck bringt, ist vielfältig, wie Chiara Anzani, Organisatorin der Miniartextil zusammen mit Paola Re, erklärt: “Die Produktionsrealitäten des Textilsektors sind eine der wichtigsten Stimmen der lokalen Wirtschaft; sie unterstützen die Ausstellung nicht nur, sondern lassen sich von ihr auch kreativ inspirieren. ”Wie auch in anderen Bereichen ist es die Kunst, die Trends erkennt und vorwegnimmt: “Rosa steht für das Weibliche, aber auch für einen Anreiz zur Befreiung, zur Leichtigkeit” fährt Chiara Anzani fort. Konzepte, die von der monumentalen Installation, die den Besucher empfängt, plastisch dargestellt werden: ein sehr hoher Vorhang aus Vliesstoff, eine bunte Kaskade zwischen Rosa und Fuchsia, perforiert wie Spitze, von oben herabgelassen wie ein Brautschleier oder eine edle Schleppe. Es trägt den Titel ‘Cage’ und ist das Werk von Manuel Ameztoy, einem argentinischen Künstler, der die Grenzen zwischen Architektur, Ornament, Skulptur und Folklore auslotet. In seiner auffälligen Spektakularität erinnert es an das Thema der Frauenkleidung, die in ihrem Streben nach Verführbarkeit oft einen Käfig um den Körper gebaut hat. Cage by Ametzoy eröffnet den Weg der Maxi-Werke, die von den Kuratoren Paolo Bolpagni, Sonia D’Alto und Giovanni Berera ausgewählt wurden, die in der Ausstellung Künstler wie Marinella Senatore, Jacopo Benassi, Emma Talbot, Igshaan Adams, Jaime Poblete, Pae White, um nur einige zu nennen, zusammengebracht haben, die Stoff als kraftvolles Ausdrucksmittel einsetzen.

Antonella Galli

Captions

Some of the works on exhibit at Villa Olmo, Como, in the exhibition Rosa Alchemico, open until 8 January 2023. Photo courtesy of Miniartextil Rosa Alchemico

01, 04, 05, 07, 08, 10, 13: Miniartextil 2022, Villa Olmo, Como: some of the 54 textile artworks (standard size 20x20x20 cm) selected for the exhibition
02, Villa Olmo, Como, home of the exhibition
03 Ruben Montini, A Moral Duty and Amori di serie B, sewn on wood (2021-2022), courtesy of the artist
06 Marinella Senatore, Protests forms: memory and celebrations, embroidery on theatrical velvet (2019 and 2020), courtesy of the artist and Mazzoleni London - Turin
09 Manuel Ameztoy, Cage, non-woven fabric, 2013, courtesy of the artist; photo by t-space Studio
11 Pae White, Untitled, cotton, polyester, wool and lurex, 2022, courtesy of the artist and Kaufman Repetto, Milan/New York; photo by t-space Studio
12 Jaime Poblete, Untitled, pigment, ash, salt and acrylic resin on folded, stitched upholstery fabric, 2019, courtesy of the artist

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